Grundlagen und Exkurse

A Gesetzesauslegung

I Wortlaut (philologische Auslegung)

- Auslegung ist Textinterpretation und hat deshalb vom Wortlaut der Norm auszugehen

- Der Wortlaut ist die äußerste Grenze der Auslegung. Auf Fallgestaltungen, die der Wortlaut nicht abdeckt, kann eine Norm niemals direkt, sondern allenfalls analog angewandt werden. Das Gesetz wird dann aber nicht mehr ausgelegt, sondern im Wege der Lückenfüllung ergänzt

II Regelungsumfeld (systematische Auslegung)

- Bei der systematischen Auslegung ist der Standort der auszulegenden Norm im Gesetz, das Zusammenspiel mit den davor oder dahinter stehenden oder mit in Bezug genommenen Vorschriften und der Vergleich mit verwandten Regelungen, auch in andern Gesetzen, in Betracht zu ziehen. Es ist also beispielsweise zu fragen, in welchem Abschnitt des Gesetzes die Norm steht und zu welcher Thematik sich dieser Abschnitt und die darin enthaltenen, die auszulegende Norm einrahmenden Vorschriften befassen

III Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)

- Bei der historischen Auslegung sind die Materialien zu untersuchen

- Der Wert der historischen Bestandsaufnahme für die Beantwortung von Einzelfragen wird oft bezweifelt. Eine gründliche Auslegung kommt indessen ohne sie nicht aus

- Der Rechtsanwender ist vor allem an die grundsätzlichen Interessenbewertungen und an die erkennbaren Regelungsabsichten des Gesetzgebers gebunden

- Die historische Auslegung liefert regelmäßig keine verbindlichen Anweisungen, sondern nur Argumente für eine bestimmte Deutung, die aber durch gewichtigere Argumente aus anderen Auslegungskriterien aufgewogen werden können. Die genaue Grenzziehung ist freilich schwierig. Das führt nicht selten dazu, dass der Wille des Gesetzgebers als schlagkräftiges Argument benutzt wird, wenn er die eigene Ansicht stützt, während man den Willen des Gesetzgebers gern für unverbindlich erklärt, wenn er der eigenen Ansicht zuwiderläuft

IV Normzweck (teleologische Auslegung)

- Die teleologische Auslegung ist häufig das entscheidende Auslegungskriterium

- Für die Ermittlung des Normzwecks kann wiederum die historische Auslegung gute Dienste leisten, weil sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers oft aus den Gesetzesmaterialien ergibt. Beispielsweise ist der Normzweck des § 107 BGB der Schutz des Minderjährigen vor ihm nachteiligen Rechtsgeschäften

- Steht der Normzweck fest, gibt er regelmäßig ein wichtiges Kriterium für die Entscheidung zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten. Dabei kommt sowohl eine enge (einschränkende, restriktive) Auslegung in Betracht, wenn der Normzweck es gebietet, den Anwendungsbereich der Vorschrift zu begrenzen, als auch eine weite (extensive) Auslegung, wenn der Normzweck einen ausgedehnten Anwendungsbereich verlangt. Die Grenze bildet freilich auch hier wieder der Wortlaut der Norm

V Höherrangiges Recht

- Lässt eine auszulegende Norm unter Berücksichtigung von Wortlaut, Gesamtzusammenhang, Entstehungsgeschichte und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine mit dem Grundgesetz unvereinbar wäre, so ist im Wege der verfassungskonformen Auslegung davon auszugehen, dass der Norm im Zweifel derjenige Sinn zukommen soll, der mit der Verfassung vereinbar ist

B Rechtsfortbildung

I Gesetzesimmanente Rechtsfortbildung

1 Teleologische Reduktion

- Es gibt Fälle, die vom Wortlaut der Norm erfasst, obwohl das nach Sinn und Zweck der Vorschrift gar nicht nötig wäre. Der Gesetzgeber hat aber diese Fälle nicht bedacht und deshalb eine Ausnahme nicht vorgesehen. In dieser Konstellation ist der Wortlaut, gemessen am Zweck der Norm, zu weit. Die entscheidende Rolle des Normzwecks erlaubt es indessen, die Vorschrift im Wege der teleologischen, also am Zweck der Norm orientierten Reduktion auf das nötige Maß „zurückzustutzen“ und sie auf die unnötigerweise erfassten Fälle nicht anzuwenden

- Die teleologische Reduktion ist nicht Auslegung, sondern Korrektur des Wortlautes

- Eine teleologische Reduktion ist nur erlaubt, wenn sie dem Gesetzgeberwillen nicht widerspricht

2 Analogie

- Der Anwendungsbereich der Analogie ist eröffnet, wenn die Auslegung zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Vorschrift den zu prüfenden Fall nicht erfasst, nach ihrem Sinn und Zweck aber eigentlich erfassen müsste. Der Wortlaut ist hier als nicht zu weit, sondern zu eng, so dass es geboten ist, die Vorschrift entsprechend anzuwenden

- Die Analogie ist von der weiten Auslegung abzugrenzen: Bei einer weiten Auslegung wird der zu prüfende Fall noch von der Norm erfasst, so dass diese direkt angewandt werden kann. Bei der Analogie hingegen ist der zu prüfende Fall vom Wortlaut der Norm auch bei weiter Interpretation nicht mehr gedeckt. Die Auslegung stößt an die Grenze des äußersten Wortsinns

- Durch die analoge Anwendung einer Norm geriert sich der Rechtsanwender als „Ersatzgesetzgeber“. Das bedarf einer besonderen Legitimation und darf vor allem nicht mit dem Willen des eigentlichen zuständen Gesetzgebers kollidieren. Deshalb ist eine Analogie nur unter folgenden Voraussetzungen zuständig:

(1) Planwidrige Lücke im Gesetz

(2) Vergleichbarkeit von Normzweck und Interessenlage: Entsprechende Überlegungen haben beim Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) anzusetzen, der es gebietet, vergleichbare Sachverhalte gleich zu behandeln. Es ist deshalb zu prüfen, ob die Interessenlage des geregelten Falles der des nicht geregelten Falles entspricht und ob der Zweck der Norm deren Anwendung auf den nicht geregelten Fall fordert

III Gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung

- Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung und der daraus resultierenden Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) ergibt sich, dass klare Entscheidungen des Gesetzgebers darüber, welche Fälle erfasst sein sollen und welche nicht, weder im Wege der Auslegung, noch im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung korrigiert werden dürfen. Andernfalls handelt es sich um eine unzulässige Rechtsfortbildung contra legem

- Von diesem Grundsatz können Ausnahmen nur unter sehr strengen Voraussetzungen zugelassen werden

 

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