Verspätete Angriffs und Verteidigungsmittel

Fall:
Der Kläger hatte einen Mahnbescheid über eine Kaufpreisforderung für einen gebrauchten Pkw (genaue Bezeichnung) in Höhe von 9.000 € nebst Zinsen erwirkt, gegen den der Beklagte fristgerecht Widerspruch mit dem pauschalen Hinweis auf Mängel des Pkw eingelegt hat. Kläger und Beklagte sind Privatpersonen.

Am 02.02. ist dem Beklagten die Anspruchsbegründung (vgl. § 697 Abs. 2 S. 1 ZPO) zugestellt und ihm unter Hinweis auf § 331 Abs. 3 ZPO eine Frist von zwei Wochen zur Abgabe der Erklärung der Verteidigungsbereitschaft, weiterhin eine Frist von zwei weiteren Wochen zur schriftlichen Klageerwiderung gesetzt worden (vgl. §§ 697 Abs. 2, 276 Abs. 1 ZPO). Weiterhin ist er durch eine von dem Vorsitzenden des Prozessgerichtes unterzeichnete Verfügung über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden. Der Beklagte zeigte fristgerecht seine Verteidigungsbereitschaft an. Nach Ablauf der gesetzten Fristen ist der Beklagte am 16.03. zur mündlichen Verhandlung am 06.05. geladen worden.

Mit der am 30.03. eingegangenen Klageerwiderung beruft er sich auf einen Motorschaden des Pkw, der wenige Tage nach dem Kauf aufgetreten sei (Beweis: Sachverständigengutachten). Er behauptet, dass er den Kläger ca. vier Monate später davon unterrichtet und ihm das Kraftfahrzeug zur Verfügung gestellt habe, da der Kläger jegliche Art der Nacherfüllung verweigert habe.

Der Vorsitzende des Prozessgerichts hat am 30.03. die Zusendung der Klageerwiderung an den Kläger und Wiedervorlage zum Termin verfügt. Mit einem am 28.04. eingegangenen Schriftsatz tritt der Kläger der Mängelrüge des Beklagten entgegen, insbesondere sei das Fahrzeug bei Ubergabe nicht mangelhaft gewesen und weist auf dessen Versäumung der Klageerwiderungsfrist hin.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 06.05. versichert der Prozessbevollmächtigte des Beklagten an Eides Statt, dass sein Stationsreferendar, der als amtlich bestellter Vertreter seine Urlaubsvertretung übernommen habe, die Klageerwiderungsfrist aus Unachtsamkeit übersehen habe.

A. Prozessstation unproblematisch
 
B. Sachstation
 
I. Klägerstation
Der Anspruch des Klägers ist aus § 433 Abs. 2 BGB i.H.v. 9.000 € schlüssig.
 
II. Beklagtenstation

Der Kaufpreiszahlungsanspruch könnte vor dem Hintergrund des Sachvortrags des Beklagten durch Rücktritt gem. 437 Nr. 2, 1. Halbs., 323 Abs. 1, 2. Alt», 346 Abs. 1 BGB und die dadurch erfolgte Umwandlung des Kaufvertrages in ein Rückgewährschuldverhältnis erloschen sein.

1. Er behauptet einen Motorschaden nach wenigen Tagen nach Kaufvertragsabschluss und damit einen Sachmangel des Fahrzeuges im Zeitpunkt des Gefahrübergangs (§§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 446 BGB).

2. Folglich hatte er ein Rücktrittsrecht aus § 323 Abs. 1 2. Alt. BGB. Die dort vorgesehene Fristsetzung zur Nacherfüllung gem. §§ 437 Nr. 1, 439 BGB ist gem. § 323 Abs. 2 Nr. I BGB entbehrlich, da der Kläger jede Art der Nacherfüllung abgelehnt hat.

Anm.

Ein Ausschluss des Rücktrittsrechts gem. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB kommt nicht in Betracht. Es ist Sache des Klägers, Tatsachen für die Unerheblichkeit des Mangels vorzutragen und ggf. die Unerheblichkeit des Mangels zu beweisen.

3. Die erforderliche Rücktrittserklärung, § 349 BGB, liegt konkludent in der Rückgabe des Fahrzeugs.

Klausurtipp:

Der Rücktritt kann gem. §§ 438 Abs. 4 S. l, 218 Abs. I S. I BGB unwirksam sein, wenn der Nacherfüllungsanspruch verjährt ist (vgl. § 438 Abs. I Nr. 3, Abs. 2, 2. Alt. BGB als Regelfall, § 475 Abs. 2, letzt. Halbs. BGB für den Fall des hier nicht vorliegenden Verbrauchsgüterkaufs i.S.d. § 474 Abs. 1 BGB; vgl. § 309 Nr. 8 ff. BGB für den Fall von AGB).

Es ist nach allgemeinen Grundsätzen hier Sache des Klägers, die Unwirksamkeit des Rücktritts durch das sich Berufen auf die Verjährung des Nacherfüllungsanspruchs herbeizuführen. Der Verkäufer beruft sich auf die Rechtsfolgen der §§ 438 Abs. 4 S. l, 218 Abs. 1 BGB, sodass er die dafür erforderlichen Tatsachen behaupten und ggf. beweisen muss.

Hier kommt ein entsprechender Einwand des Klägers nicht in Betracht, da der Beklagte vier Monate nach Abschluss des Kaufvertrages das Fahrzeug zur Verfügung gestellt und damit den Rücktritt erklärt hat. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch der Nacherfüllungsanspruch noch durchsetzbar gewesen.

 Für den Fall der Verjährung des Nacherfüllungsanspruchs hätte dem Beklagten dann die Mängeleinrede gem. § 438 Abs. 4 S. 2 BGB erheben und die Zahlung des Kaufpreises verweigern können.

Der Vortrag des Beklagten ist damit erheblich.

Anm.

In der Beklagtenstation ist das gesamte Vorbringen des Beklagten auf seine Erheblichkeit zu überprüfen. Eine etwaige Verspätung ist hier nicht zu prüfen. Begründung: § 300 Abs. I ZPO

Ist der Rechtsstreit auch unter Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens entscheidungsreif, kann keine Verzögerung des Rechtsstreits durch die Einführung des neuen Tatsachenstoffs eingetreten sein. Eine Verzögerung kann nur vorliegen, wenn der Rechtsstreit im Zeitpunkt der Aktenbearbeitung nicht entscheidungsreif ist. Dies steht aber erst am Ende der Beweisstation fest.

III. Beweisstation

1. Beweisbelastete Partei: Beklagter, da er sich auf die Rechtsfolgen eines Rücktritts beruft.

2. Beweisfrage: Ist bewiesen, dass das Fahrzeug im Zeitpunkt des Gefahrübergangs bereits derart mangelbehaftet war, dass sich dieser Mangel im nachfolgenden Motorschaden realisiert hat?

3. Beweisbedürftigkeit (+).

4. Ordnungsmäßiger Beweisantritt des Beklagten

Der Beklagte hat ein Strengbeweismittel (§§ 371 ff. ZPO), hier die Einholung eines Sachverständigengutachtens, durch Bezeichnung der zu begutachtenden Punkte, benannt (§ 403 ZPO).

5. Das Gericht wird deshalb den Beweis erheben, wenn der Sachvortrag des Beklagten nicht wegen Verspätung zurückzuweisen ist.

IV. Verspätungsstation

Fraglich ist, ob der Rücktrittseinwand des Beklagten gem. §§ 296 Abs. 1, 276 Abs. 1 S. 2, 697 Abs. 2 S. 2 ZPO ausgeschlossen ist.

1. Angriffs- oder Verteidigungsmittel i.S.d. § 282 Abs. 1 ZPO

Der Beklagte bringt eine anspruchsvernichtende Einwendung (Rücktritt) und darauf gerichtete Beweismittel vor.

Anm.

Keine Angriffs- oder Verteidigungsmittel sind neue Sachanträge (z.B. Hilfsanträge, insoweit ggf. keine Sachdienlichkeit i.S.d. § 263 ZPO) und die Widerklage.

2. Wirksame Fristsetzung 

(häufig: Verstoß gegen die allg. Prozessförderungspflicht)

erfordert eine Verfügung des Vorsitzenden, die

  • seine volle Unterschrift trägt (Stempel reicht nicht),
  • die Frist eindeutig bestimmt, die Partei über die Folgen der Fristversäumnis belehrt (hier vgl. §§ 697 Abs. 2 S. 1, 277 Abs. 2 ZPO), der Partei zugestellt wird.

Die Voraussetzungen liegen hier vor. Die Fristsetzung erfolgte hier gem. §§ 697 Abs. 2 S. 2, 276 ZPO.
 
3. Die Klageerwiderung ist auch erst nach Fristablauf eingegangen.
 
4. Verzögerung des Rechtsstreits

Das Gericht muss den verspäteten Sachvortrag des Beklagten dennoch berücksichtigen, wenn seine Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde, also trotz verspäteten Vortrags Entscheidungsreife (§ 300 Abs. 1 ZPO) vorliegt (§ 296 Abs. 1 ZPO). Umstritten ist, wann eine Verzögerung in diesem Sinne vorliegt.

a) H.M.: sog. absoluter Verzögerungsbegriff

Eine Verzögerung liegt vor, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung.

BGH: „Für die Feststellung der Verzögerung kommt es allein darauf an, ob der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung. Unerheblich ist, ob der Rechtsstreit bei rechtzeitigem Vorbringen ebenso lange gedauert hätte.

Es ist also ein Vergleich der Prozessdauer bei Zulassung mit der bei Nichtzulassung des Verteidigungsmittels des Beklagten vorzunehmen.

Wird der Rücktrittseinwand des Beklagten zugelassen, ist ein Sachverständigengutachten über die Beweisfrage einzuholen. Der Rechtsstreit kann also nicht mehr im anberaumten Termin erledigt werden.

Wird der Rücktrittseinwand des Beklagten nicht zugelassen, liegt kein erheblicher Sachvortrag des Beklagten vor. Da die anspruchsbegründenden Umstände unstreitig sind, wäre der Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.

Es läge danach eine Verzögerung vor, sodass die Mängelrüge des Beklagten vom Gericht nicht aus dem Gesichtspunkt der fehlenden Verzögerung zuzulassen ist.

b. aA.: Sog. relativer (hypothetischer) Verzögerungsbegriff

Hiernach liegt eine relevante Verzögerung vor, wenn der Prozess bei Zulassung des Vorbringens länger dauern würde, als er bei rechtzeitigem Vorbringen gedauert hätte (Vergleich der Dauer bei Verspätung mit der bei Nichtverspätung).

„ Ob durch die Zulassung verspäteten Vorbringens die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird, ergibt sich aus einem Vergleich der Prozessdauer bei rechtzeitigem und bei verspätetem Vorbringen."

Dies kann auf der Grundlage des mitgeteilten Sachverhaltes nicht ermittelt werden.

c. BVerfG

„Ebenso wenig verletzt die Anwendung des sogen. absoluten Verzögerungsbegriffs [wonach es für den Ausschluss verspäteten Vorbringens ausschließlich darauf ankommt, ob der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung] Grundrechte der BeschwF. Dazu hat das BVerfG bisher nur insoweit eindeutig Stellung bezogen, als es die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Präklusion im frühen ersten Termin nach § 296 Abs. 2 ZPO und die Ausfüllung der Begriffe »Verzögerung« und »grobe Nachlässigkeit« den Fachgerichten zugewiesen hat. Beanstandet hat es die Anwendung des absoluten Verzögerungsbegriffs allerdings dann, wenn es sich bei dem frühen ersten Termin um einen Durchlauftermin handelt, also eine zur Streitentscheidung geeignete Verfahrensvorbereitung erkennbar nicht getroffen wurde.

Die Zulässigkeit einer Präklusion wird verfassungsrechtlich erst problematisch, wenn sich ohne weitere Erwägungen aufdrängt, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vorbringen eingetreten wäre. Einerseits kann es nicht Sinn der der Beschleunigung dienenden Präklusionsvorschriften sein, das Gericht mit schwierigen Prognosen über hypothetische Kausalverläufe zu belasten und damit weitere Verzögerungen zu bewirken; diese Vorschriften dürfen aber andererseits auch nicht dazu benutzt werden, verspätetes Vorbringen auszuschließen, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist, dass die Pflichtwidrigkeit die Verspätung allein — nicht kausal für eine Verzögerung ist. In diesen Fällen ist die Präklusion rechtsmissbräuchlich."

Nach dem BVerfG ist also grds. dem absoluten Verzögerungsbegriff zu folgen. Es ist hier auch nicht ohne jeden Aufwand erkennbar, dass das Gericht, wenn der Einwand rechtzeitig vorgetragen worden wäre und der Kläger hierauf erwidert hätte, nicht bereits einen Beweisbeschluss erlassen hätte, mit der Folge, dass bereits im Termin vom 06.05. die Begutachtung des Sachverständigen vorgelegen hätte (vgl. § 358 a Nr. 4 ZPO).

Auch nach dieser Auffassung wäre daher der Vortrag des Beklagten nicht bereits wegen fehlender Verzögerung zuzulassen.

d) Stellungnahme

Den Vorzug verdient die Rechtsprechung des BVerfG. Der hypothetischer Verzögerungsbegriff ist zwar generell nicht praktikabel, da hypothetischer Prozessverlauf in der Praxis kaum zu bestimmen ist. Ist allerdings das verspätete Vorbringen allein evident nicht kausal für die Verzögerung geworden, ist das Vorbringen zuzulassen.

Es ist also von einer Verzögerung des Rechtsstreits bei Zulassung des Vorbringens des Beklagten auszugehen.

5. Verzögerung muss der Partei zurechenbar sein 

Das ist nicht der Fall, wenn

  •  zu kurze Fristen gesetzt wurden, (z.B. wenn Frist,setzung zur Klageerwiderung schon mit Frist zur Klagebegründung verbunden wurde), hier G).
  • Gericht durch zumutbare Maßnahmen nach § 273 ZPO Verzögerung hätte vermeiden können, hier G). Die Begutachtung durch Sachverständigen war in der Zeit zwischen Erwiderung des Klägers auf das Beklagtenvorbringen bis zur mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich.
 
6. Verschulden

Das Vorbringen des Beklagten ist deshalb nur dann vom Gericht nicht unbeachtet zu lassen, wenn er die Verspätung genügend entschuldigt (§ 296 Abs. l, letzt. Halbs. ZPO).

Das Verschulden der Partei wird gesetzlich vermutet, sodass es an ihr ist, sich zu exkulpieren.

Den Beklagten selbst trifft kein Verschulden. Er muss sich aber das Verschulden seines Prozessvertreters gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Dies gilt auch für dessen amtlich bestellten Vertreter, auch wenn dieser Referendar ist (§ 53 Abs. 4 S. 2 BRAO,).

Klausurtipp:

Keine Vertreter sind die sonstigen Angestellten des Rechtsanwalts; § 278 BGB gilt im Prozessrecht nicht.

-> keine Kettenzurechnung -> wenn Sekretärin etwas vermasselt -> Verschulden (-)

Das verspätete Vorbringen des Beklagten ist damit nach § 296 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

V. Zweite Beklagtenstation

Fraglich ist deshalb, ob das Beklagtenvorbringen ohne den zurückgewiesenen Teil noch erheblich ist. 

Hier hatte der Beklagte in der Widerspruchsschrift lediglich einen unsubstanziierten Sachvortrag vorgebracht („pauschaler Hinweis auf Mängel"). Dieser ist daher nicht erheblich.

Ergebnis: Die Klage ist ohne Beweisaufnahme begründet.

Anm.

Der Ausschluss des Vorbringens des Beklagten setzt sich auch in der Berufungsinstanz fort (§ 531 Abs. I ZPO).

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